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Karoshi: "Tod durch Überarbeitung" in Japan

Karoshi (過労死) ist ein japanischer Begriff, der wörtlich "Tod durch Überarbeitung" bedeutet. Er beschreibt ein Phänomen, das in den letzten Jahrzehnten in Japan immer mehr Aufmerksamkeit erlangt hat. Dabei handelt es sich um den plötzlichen Tod, der durch exzessive Arbeitsbelastung verursacht wird. Zu den häufigsten Ursachen gehören Herzinfarkte, Schlaganfälle oder auch Suizid infolge von extremem Stress. Obwohl das Konzept des Karoshi in Japan entstanden ist, hat es globale Relevanz, da viele Länder eine Zunahme von stressbedingten Todesfällen in Verbindung mit übermäßigem Arbeitseinsatz beobachten.


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Historischer Hintergrund


Das Phänomen des Karoshi tauchte erstmals in den 1970er Jahren auf, als Japans Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in den sogenannten "Wirtschaftswunderjahren" einen massiven Boom erlebte. In dieser Zeit entstanden viele der extremen Arbeitskulturen, die heute als typisch japanisch angesehen werden. Die japanischen Unternehmen hatten hohe Erwartungen an ihre Mitarbeiter, und es entwickelte sich ein starker Leistungsdruck. Viele Menschen begannen, unglaublich lange Arbeitszeiten zu leisten, oft über 60 Stunden pro Woche. Gleichzeitig wurden persönliche Opfer wie das Aufgeben von Freizeit und Familienzeit als Teil des Pflichtbewusstseins angesehen.


Die ersten offiziell als Karoshi anerkannten Fälle wurden in den 1980er Jahren gemeldet, wobei die japanische Regierung und die Gesellschaft zunächst nur zögerlich auf das Problem reagierten. Der Druck, Teil des wirtschaftlichen Erfolges zu sein, war so hoch, dass die Frage, ob die Arbeitsbedingungen ungesund oder gefährlich waren, lange ignoriert wurde.


Ursachen von Karoshi


Die Ursachen für Karoshi sind vielfältig und umfassen sowohl physische als auch psychische Belastungen. Im Mittelpunkt steht jedoch stets der extreme Arbeitsdruck, der durch die spezifischen Arbeitsverhältnisse und Erwartungen in der japanischen Gesellschaft verstärkt wird.


1. Überlange Arbeitszeiten

Eine der Hauptursachen von Karoshi sind überlange Arbeitszeiten. In vielen japanischen Unternehmen ist es üblich, deutlich mehr zu arbeiten, als vertraglich vorgesehen. Eine 60- bis 70-Stunden-Woche ist keine Seltenheit, und es wird erwartet, dass die Mitarbeiter auch nach ihrer offiziellen Arbeitszeit weiter arbeiten, ohne dafür zusätzliche Vergütungen zu erhalten. Es existiert ein unausgesprochenes soziales Diktat, das Arbeitnehmern nahelegt, so lange zu arbeiten, bis der Vorgesetzte das Büro verlässt. Dieser sogenannte "presentism" führt dazu, dass Menschen stundenlang im Büro bleiben, auch wenn ihre Produktivität längst nachgelassen hat.


2. Mangel an Freizeit

Mit den langen Arbeitszeiten geht einher, dass viele Japaner nur wenig Freizeit haben. Dies führt zu einem Mangel an Erholung und sozialer Interaktion außerhalb der Arbeit. Ohne ausreichende Erholungsphasen können sowohl der Körper als auch der Geist nicht ausreichend regenerieren, was langfristig zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führt. Auch der gesellschaftliche Druck, ein pflichtbewusster Arbeitnehmer zu sein, führt dazu, dass viele Menschen ihre Freizeit und sogar ihre Urlaubsansprüche nicht in Anspruch nehmen.


3. Psychischer Druck

Neben den physischen Anforderungen spielt auch der psychische Druck eine zentrale Rolle beim Phänomen Karoshi. In der japanischen Arbeitskultur ist der Anspruch, Erfolg und Leistung zu bringen, besonders hoch. Mitarbeiter, die nicht den Erwartungen entsprechen, riskieren soziale Ausgrenzung oder berufliche Rückschläge. Viele Menschen empfinden daher den ständigen Druck, ihre Karriere voranzutreiben und im Job erfolgreich zu sein, als extrem belastend.


Dieser ständige Leistungsdruck führt oft zu Burnout, Depressionen oder Angststörungen. Diese psychischen Belastungen können genauso tödlich sein wie die physischen Auswirkungen der Arbeit. Tatsächlich kommt es oft vor, dass Karoshi in Form von Suizid auftritt – ein Phänomen, das in Japan als "karojisatsu" bezeichnet wird.


4. Unzureichende Gesundheitsfürsorge

Ein weiterer Faktor, der zur Verbreitung von Karoshi beiträgt, ist das Fehlen ausreichender Gesundheitsfürsorge für überarbeitete Mitarbeiter. Obwohl Japan ein gut entwickeltes Gesundheitssystem hat, gehen viele Arbeitnehmer aufgrund ihrer langen Arbeitszeiten und des hohen Drucks nicht regelmäßig zum Arzt. Krankheiten, die durch Stress und Überarbeitung entstehen, werden oft zu spät erkannt oder ignoriert. Insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die durch chronischen Stress verursacht werden, spielen bei vielen Karoshi-Fällen eine zentrale Rolle.


Karoshi und die japanische Gesellschaft


Das Phänomen Karoshi wirft ein Schlaglicht auf einige der tief verwurzelten Probleme in der japanischen Gesellschaft, insbesondere auf die Arbeitskultur und die Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft. In der japanischen Kultur ist das Konzept des "Giri", also der Verpflichtung gegenüber anderen, besonders stark. Das bedeutet, dass viele Menschen das Gefühl haben, gegenüber ihren Arbeitgebern eine moralische Verpflichtung zu haben, auch wenn diese auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit geht.


In vielen japanischen Unternehmen wird von den Mitarbeitern erwartet, dass sie sich selbst für den Erfolg des Unternehmens opfern. Dies wird durch das traditionelle System der lebenslangen Anstellung verstärkt, das jedoch in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten ist. Dieses System bedeutete für viele Arbeitnehmer jahrzehntelang, dass sie sich voll und ganz ihrem Arbeitgeber verschrieben haben, da sie im Gegenzug Sicherheit und Aufstiegschancen erhielten. Diese Erwartungshaltung ist nach wie vor in vielen Unternehmen präsent, auch wenn die wirtschaftlichen Realitäten sich geändert haben.


Darüber hinaus wird in Japan das Konzept von "Ganbaru" – was so viel bedeutet wie "durchhalten" oder "das Beste geben" – stark betont. Diese Einstellung, dass man harte Arbeit und Schwierigkeiten ohne Klagen ertragen sollte, trägt dazu bei, dass viele Menschen ihre eigenen Grenzen ignorieren und weiterhin arbeiten, auch wenn sie erschöpft sind.


Auswirkungen auf die Gesundheit


Die gesundheitlichen Auswirkungen von Karoshi sind drastisch und betreffen sowohl den Körper als auch die Psyche der Betroffenen. Zu den häufigsten physischen Symptomen gehören chronische Erschöpfung, Bluthochdruck, Herzprobleme und Magen-Darm-Erkrankungen. Über die Jahre hinweg können diese Symptome zu ernsten gesundheitlichen Problemen führen, darunter Herzinfarkte und Schlaganfälle, die in vielen Fällen tödlich verlaufen.


Die psychischen Auswirkungen von Karoshi sind ebenso gravierend. Viele Arbeitnehmer leiden unter chronischem Stress, Schlaflosigkeit, Angstzuständen und Depressionen. Diese psychischen Belastungen können zu Suizid führen, insbesondere wenn die Betroffenen keine Unterstützung oder Hilfe in ihrem Umfeld finden. Die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen in der japanischen Gesellschaft führt oft dazu, dass Menschen nicht offen über ihre Probleme sprechen und keine professionelle Hilfe suchen.


Gesetzliche und gesellschaftliche Reaktionen


Angesichts der zunehmenden Zahl von Karoshi-Fällen hat die japanische Regierung begonnen, Maßnahmen zu ergreifen, um das Problem anzugehen. Im Jahr 2014 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Unternehmen dazu verpflichtet, Berichte über arbeitsbedingte Todesfälle und Gesundheitsprobleme zu erstellen. Darüber hinaus wurden Regelungen eingeführt, um die Anzahl der Überstunden zu begrenzen. Diese Maßnahmen sind jedoch nicht immer ausreichend, da viele Unternehmen weiterhin Schlupflöcher finden oder die Regelungen nicht streng genug durchgesetzt werden.


Auch in der japanischen Gesellschaft hat Karoshi zu einer Debatte über die Arbeitskultur geführt. Immer mehr Menschen fordern eine bessere Work-Life-Balance und ein Ende der extremen Arbeitszeiten. Es gibt eine wachsende Bewegung, die sich für flexible Arbeitszeiten, mehr Urlaubstage und eine größere Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Mitarbeiter einsetzt. Die Herausforderung besteht jedoch darin, diese Forderungen in einer Kultur umzusetzen, die jahrzehntelang von harter Arbeit und Opferbereitschaft geprägt war.

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